Gründungsrede

Robert Eberhardt

„Das reiche Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit der Vorwelt reich vermehrt an die Folgewelt abgeben“

Das Kulturerbe Thüringens und die Notwendigkeit einer Gesellschaft sowie eines Thüringen-Museums.

Gründungsrede, gehalten am 14. August 2010
in der Todenwarthschen Kemenate zu Schmalkalden

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Im Herzen Deutschlands liegt ein ausgedehntes Ländergebiet, das gesegnete Fluren, blühende Städte, mäandrische Flüsse, ein hohes höchst romantisches Waldgebirge umfasst und große, geschichtliche Erinnerungen bewahrt. Vor alten Zeiten war dieses Ländergebiet ein Königreich und hieß Thüringen. Sein Königthum versank im Fluthen des Zeitenstromes; das Land ward getheilt und zerrissen, es wurden vieler Herren Länder daraus, aber der alte Name blieb und lebt unaustilgbar fort.

Eine gemalte Idylle lesen wir in diesen Zeilen des Thüringer Schriftstellers Ludwig Bechstein aus seinen WANDERUNGEN DURCH THÜRINGEN aus dem Jahre 1838. Eine Landschaft höchster Anmut und Ausgewogenheit, ein Naturideal. Doch der schöne Traum währt nur einen Satz. Bereits im zweiten bricht das Bild, wir erkennen das die Landschaft politisch Fassende, das alte Thüringer Königtum, als zerbrochen und versunken. Nur ein Name blieb, Thüringen, als Relikt, als Rahmen, als Referenz.

Wir Heutigen sind Ergebnise der uns voran gegangenen Zeiten. Sprache, Verhaltensnormen, Weltsichten – alles findet seinen Ursprung im Gestern. Und dennoch erscheint uns die Vergangenheit abstrakt, denn sie ist ja geschehen, vorbei, nicht mehr existent und nur über ihre Spuren und Quellen erfahrbar.

Die in diesem Raum aufgestellte Schiller-Büste symbolisiert es trefflich: Zwar wissen wir um die Existenz dieses großen Autors, dessen Leben mit Thüringen so eng verbunden ist, wir wissen auch von seinen Texten, lesen sie vielleicht hin und wieder, oder haben sie einst – wenn wir Glück hatten – in der Schulzeit gelesen … Doch irgendetwas liegt zwischen ihm und uns, das Andenken hat – wie die Büste – Bruchstellen und Alterserscheinungen.

Ludwig Bechsteins Worten zu Folge, ist es anscheinend ein altes Problem: der Umgang mit der Geschichte. Die Fragen: Was hat uns die Vergangenheit zu sagen? Ist aus ihr zu lernen oder die Beschäftigung mit der Geschichte nur ein beliebiger Zeitvertreib? Wie definieren wir unsere Gegenwart – in Tradition zu alten Zeiten oder in Abgrenzung zu frühreren Epochen? Wie viel an Kosten und Aufwand ist uns der Erhalt des kulturellen Erbes überhaupt wert? Exakt: Wie viel Geld, welchen prozentualen Anteil unserer gesellschaftlichen Wertschöpfung, nutzen wir zum Erhalt und zur Förderung von Kultur und Bildung?

Unsere Gegenwart hat auf diese Fragen Antworten gefunden, gibt dies jedenfalls so an – recht junge Antworten muss man sagen, denn die Sicht, mit der wir heute auf die Vergangenheit blicken, ist – für Thüringen gesehen – gerade einmal 20 Jahre alt. Die einst existierenden Fürsten- und Herzogtümer sind – auch als Kunstmäzene – schon seit langer Zeit verschwunden, zwei unfreiheitliche Gesellschaftsformen und deren Ge- und Missbrauch von Kultur sind ebenso Geschichte, und so suchten Kunst und Bildung nach 1990 neue Existenzgrundlagen.

Heute existieren im Freistaat Museen zu allen möglichen Themen, von authentischen Gedenkstätten bis hin zum Bratwurst- oder Motorsägenmuseum, meist staatlich finanziert, verwaltet und beaufsichtigt, mit nicht gerade kleinen Mitarbeiterstäben versehen; staatlich subventionierte Theater, die alte Stücke zeitgemäß zu interpretieren versuchen; kulturelle Initiativen; Konzertreihen; Kunstprojekte in jeder Stadt, in jeder Gemeinde, ja, in beinahe jedem Dorf. Doch so wichtig und richtig diese Breitenkultur sein mag – wir alle wissen, dass Quantität nicht Qualität bedeuten muss.

National oder gar international kommt aus Thüringen heute recht wenig, respektive gar nichts. Selbst eine mit einem so reichen Kulturerbe versehene Stadt wie Weimar wird national eher als eine nach der deutschen Einheit restaurierte Puppenstube betrachtet und vermag es nur schwerlich, wichtige Impulse in der nationalen Kulturszene zu setzen, geschweige denn, dieses Erbe gesamtgesellschaftlich fruchtbar zu machen.

Nun steht es einer gerade in der Gründung befindlichen Gesellschaft nicht gerade gut an, Kritik an denen zu üben, die das kulturelle Feld schon lange bearbeiten. Doch bedarf es dieser Analyse, um zur Frage zu kommen, warum die Gesellschaft überhaupt gegründet wurde, warum sie alle Interessierten einlädt, das Thüringer Kulturerbe über andere Wege zu vermitteln.

Man kann also fragen: Wozu bedarf es bei dieser kleinteiligen Kulturszene noch eines weiteren Vereins, einer „Gesellschaft Kulturerbe Thüringen“? Und genau an diesem Punkt setzt das Anliegen unserer Gesellschaft an: Sie möchte – vernetzend und überregional – Thüringer Geschichte und Kultur ein Forum bieten, möchte im Leitmedium Internet einen Zugang zu diesen Themen bauen.

In einem noch in diesem Jahr startenden Online-Journal sollen Text- und Bildbeiträge erscheinen, und es soll auf Veranstaltungen, Initiativen und Bücher zu Thüringen hingewiesen werden. Bisher existieren nur regionale Plattformen im Internet. Das Merkmal unseres Journals wird sein, dass die Beiträge redaktionell betreut werden. Das heißt, dass sich zwar jeder Interessierte beteiligen kann und Leser kommentieren können, aber nichts ungeprüft und ohne Qualitätsstufen zu erfüllen, publiziert wird. Damit beabsichtigen wir, jene Internetnutzer zu bedienen, die fachlich fundierte Informationen über unsere Themen erhalten möchten – und das ist mittlerweile der Großteil der Bevölkerung.

Auch andere Projekte werden von unserem Verein langfristig angestoßen werden. Zunächst ist neben dem Online-Journal aber die Realisierung eines Thüringen-Museums, bevorzugt in diesem Haus, von zentraler Bedeutung! Es besitzt, ebenso wie das Journal, einen thüringenweiten Anspruch.

Thüringen-Museum – ein großes Wort, ein ambitioniertes Vorhaben, eine Hybris? Mitnichten. Wir wollen die Geschichte Thüringens neu erzählen, interessant und leicht zugänglich.

Es ist verwunderlich, dass ein solches Museum noch nicht existiert. Freilich ergeben sich Fragen: Kann man diesen differenzierten „Kosmos Thüringen“ in einem einzigen Museum fassen? Kann man die vielen unterschiedlichen Epochen, die politischen, sozialen, kulturellen Facetten der Geschichte „unter einen Hut bringen“?

Unser Museum erhebt nicht den Anspruch, all dies zu erklären und zu erläutern. Es möchte Thüringen nicht en detail von der Urgesellschaft bis zur Zeitgeschichte erläutern, was schwierig wäre, denn, wie Sie wissen, gab es EIN oder DAS Thüringen im Grunde nie.

Wir wollen vielmehr die kulturellen Höchstleistungen, die auf dem Gebiet des heutigen Freistaates erbracht wurden, präsentieren – und das über einen personalen Zugang, d. h. über die einst hier lebenden Künstler, Wissenschaftler und Denker. Wie der Titel meines Vortrages es angab, wollen wir uns beschränken auf das Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit der Vorwelt. Die politische Geschichte Thüringens und andere Facetten sollen natürlich in die Ausstellung integriert werden.

Geschichte, wie wir sie präsentieren wollen, das sind nicht nur die politischen Gegebenheiten, Schlachten, Verträge, Amtliches. Handelnde Menschen in unterschiedlichen Epochen waren die Schaffenden, und über sie möchte das projektierte Thüringen-Museum einen Zugang zur Historie anbieten, der dem Museumsbesucher womöglich mehr mitzugeben vermag als andere pädagogische Zugangswege.

Konkret: die Fixsterne dieses Thüringen-Museums sollen jene vier Personen sein, die weltweit in ihren Bereichen als gewichtige Marksteine bekannt sind: Luther mit seinen religiösen und politischen Folgen für die Weltgeschichte; Bach als barocker Urvater späterer Komponisten und Musik; Goethe und Schiller als das Zentralgestirn der deutschen Literatur und die Weimarer Klassik als Referenzpunkt der deutschen Kulturgeschichte. Es sind diese Kristallisationspunkte schöpferischer Leistungen, um die wir unsere

Ausstellung bauen wollen, ohne dabei eine Heldenverehrung im Geschmacke des 19. Jahrhunderts zu betreiben.
Viele weitere Thüringer werden sich zu diesen Hauptpersonen gesellen. Die gesellschaftlichen Bedingungen zu deren Lebzeiten werden freilich nicht ausgeblendet.

Thüringen soll als ein landschaftlicher wie gedanklich-ideeller Raum gezeigt werden, denn alle Kulturleistungen hängen unbestreitbar zusammen, auch mit dem Naturraum, in dem sie geschaffen wurden. Die Bindungen liegen teils offen, teils verdeckt. Kettenreaktionen, Brücken über Jahrhunderte, wiederholte Spiegelungen, um einen Ausdruck Goethes zu zitieren, prägten die in dieser Landschaft lebenden Menschen.

Über genaue Abhängigkeiten und Einflüsse lässt sich streiten, doch ist das, was wir als Thüringer Kulturerbe ab 1500 bezeichnen, sicherlich nicht ohne die durch Luther angestoßene Reformation und die sich dadurch entwickelnde protestantische Haltung denkbar, jegliche Musik nach Bach nicht ohne dessen neue Klangwelten zu erklären und Nietzsche hätte ohne einen ihm vorausgegangenen Goethe nicht so gedacht, wie er es tat. Lang ließe sich diese Reihe von Spurengängern fortführen.

Man muss fragen, warum sich all dies in Thüringen begab. Erklärungsversuche wären für diesen Vortrag zu viel an Inhalt. Es sei nur kurz gesagt, dass der äußere Rahmen baulich und räumlich begrenzt war: die Kleinteilung der einstigen Fürsten- und Herzogtümer, die Bescheidenheit der Mittel, das Fragmentarische, eine nicht durch protzigen Prunk geprägte Umgebung. Thüringen kann in seiner gesunden räumlichen Ausgeglichenheit auch als ein Beispiel gesehen werden, als eine Region, in der das Materielle das Geistige nicht erstickte, in der sich Kunst und Kultur entfalten konnten.

Thüringen, das gilt für das geplante Museum ebenso wie für die allgemeine Zielsetzung unserer Gesellschaft, verstehen wir nicht als das anfangs von Bechstein besungene altdeutsche Königreich und auch nicht das Land heutiger Tage in seinen territorialen Grenzen. Wir verstehen es als einen „geistigen Kontinent“, zu dem jede Zeit und jede Generation ihren Beitrag hinzu steuerte und der in seiner gedanklichen Ausweitung ungleich größer ist als seine eigentliche in Quadratkilometern zu berechnende Flächengröße. Flächenmäßig passt Thüringen rund 32.000 Mal auf die Erdoberfläche. Sie werden mir zustimmen, sehr geehrte Damen und Herren, dass die Bedeutung des Kulturerbes unseres Landes für die Welt deutlich größer ist als nur dieses 1/32.000!

Der Reichtum Thüringens ist immens, auch wenn wir ihn, weil er uns täglich umgibt und selbstverständlich ist, vielleicht nicht immer wahrnehmen:ein Denkmalbestand von ungefähr 80.000 Objekten, darunter über 400 Burgen und Schlösser, national bedeutsame Baudenkmäler, sogar zum UNESCO- Weltkulturerbe zählende Objekte. Beedeutende Namen in allen Kunstsparten verbinden sich mit dem Land, in der Malerei kommen wir von Cranach bis Otto Dix, in der Literatur von mittelalterlicher Minne, über Luthers Bibelübersetzung und die Klassiker bis ins 20. Jahrhundert. Im Musikalischen prägten Bach, Telemann, Liszt, Brahms ihre Szene. Hinzu kommen Wissenschaftler, Erfinder, Denker und Philosophen von Meister Eckhart bis Friedrich Nietzsche.

Ohne Zweifel: Wir finden eine hohe Kulturdichte und mögen Goethe zustimmen, der 1823 seinen Sekretär Eckermann wissen ließ: Wo finden Sie, […] auf einem so engen Fleck noch so viel Gutes! Goethe sprach damals nicht über Thüringen, das es im Selbstverständnis der Bevölkerung aber durchaus gab, sondern von Weimar. Goethe bekannte weiter: Ich bin seit fünfzig Jahren dort, und wo bin ich nicht überall gewesen! – Aber ich bin immer gern nach Weimar zurückgekehrt.

Kehrt man auch heute noch gerne nach Thüringen zurück?

Abwanderungszahlen und demografischer Wandel lassen Gegenteiliges erkennen. Wer an einem gewöhnlichen Werktag mit offenen Augen durch gewöhnliche Thüringer Orte fährt, meint oftmals eine Seniorenlandschaft zu durchqueren. Eine durchmischte, gesunde und vitale Gesellschaft sieht irgendwie anders aus …

Thüringen verkauft sich heute unter Wert. 20 Jahre nach der deutschen Einheit gibt es immer noch eine Differenz zwischen Selbst- und Außensicht. Wer mit Menschen von außerhalb spricht, wird selbstverständlich deren Wissen um die Kulturbedeutung Thüringens feststellen, doch auch ebenso häufig eine Distanz, ein Unwohlfühlen vor Ort. Es sind nicht wenige, die beim Stichwort Thüringen Ostdeutschland assoziieren und sogleich mit dem Stichwort „politischer Radikalismus“ ihre Bedenken vor einem Besuch klar nennen.

Beispielsweise besuchte der weltweit renommierte indische Schriftsteller Aravind Adiga als Student 1998 Eisenach und Erfurt – kulturelle Gedächtnisorte, die für seine persönliche Bildung und humanistische Menschwerdung bedeutend waren, Kultorte, die aus der Ferne heilig schienen. Doch vor Ort begegnete man dem Ausländer in solcher Art und Weise, die Probleme waren so zahlreich, dass er schnellstens abreiste und nach seinen Erfahrungen in Thüringen für Gesamtdeutschland erklärte: Für Gelehrte und Literaten in der ganzen Welt existiert Deutschland bis in die Mitte der dreißiger Jahre … Dann hört es für uns auf, ein Land von Bedeutung zu sein.

Es ist ein Urteil von außen, vielleicht auch ein extremes Beispiel, aber ein authentisches und exemplarisches. Große Teile der Thüringer Kulturwelt, die Politik eingeschlossen, denken oft nicht über Grenzen hinaus: dort ein eingesparter Bereich, hier eine von einem Stadttheater zum anderen verschobene Million, Würdigung mit Lottogeldern, Werbekampagnen auf an Autobahnen befindlichen Werbeschildern, oftmals sogar verantwortungslose Zerstörung von Landschaftsräumen, ja gar von ausgewiesenen Denkmalen. Jedes Jahr reihen sich bedauerlicherweise neue Negativbeispiele an. Seit 1990 sind nicht unerhebliche Teile der Thüringer Denkmallandschaft zerstört und beseitigt worden. Die aktuelle Diskussion um den Bau von Windkraftanlagen im Waldgebiet der Wartburg, die erstmals nach drei Jahren und auch erst, nachdem ein deutlich warnendes Schreiben der UNESCO in Erfurt eintraf, eine definitive Positionierung der oberen Landespolitik bewirkte, ist ein Symptom des einvernehmlichen Klein-Kleins.

Zugegeben, das gezeichnete Bild soll nicht zu schwarz geraten: Die allgemeine soziale Lage im Land ist im Vergleich zu anderen Weltregionen – je nach Ansicht – ausreichend bis hervorragend. Niemand muss hungern, jeder Mensch besitzt die Möglichkeit, sein Leben selbstverantwortlich zu gestalten. Doch eine problemfreie Zone ist das heutige Thüringen nicht. Gerade angesichts des zu erwartenden Bevölkerungsrückgangs von bis zu 30 Prozent ist es auch Intention unserer Gesellschaft, ein Zeichen für das Hierbleiben zu setzen, aufzuzeigen, dass Engagement und ein abwechslungsreiches Leben nicht außerhalb des Freistaates gesucht werden müssen.

Unsere Gesellschaft möchte deshalb – wie bereits gesagt – die Thüringer Kulturgeschichte nach außen tragen, zumindest ihren Beitrag dazu leisten. Unser Ziel ist es, möglichst viele Freunde des Thüringer Kulturerbes für eine Mitgliedschaft und Mitarbeit zu gewinnen. Unsere Gesellschaft ist ein offener Verein, in den sich jeder einbringen kann, jeder, der Freude oder Verantwortung für unsere Themen empfindet.

Zurückkommen möchte ich nun noch einmal auf das allgemeine Anliegen unserer Gesellschaft. Grundsätzlich stelle ich die Frage, warum wir uns überhaupt in derartigem Umfange um die Geschichte kümmern müssen, um dieses Alte und Vergilbte.

Wir alle erkennen als Zeitgenossen in der Welt, wie in unserem eigenen Leben die bereits von Georg Friedrich Wilhelm Hegel benannte Furie des Verschwindens kraftvoll wirkt. Sie braust unaufhörlich durch die Lebensalter, macht eben noch ganz Neues zu schon Geschichtlichem, löscht Erinnerungen und schafft Geschichte. Wir sind von der Vorwelt umgeben, das Historische umzingelt uns tagtäglich, wird in Festtagsreden beschworen und touristisch vermarktet. Doch bedenkt man den schlichten und häufig zitierten Satz „Ohne Vergangenheit keine Zukunft“ denn wirklich? Reden über die Geschichte sind oft nicht mehr als Lippenbekenntnisse.

In WILHELM MEISTER warnte Goethe, man dürfe das Alte nicht vergessen, weil es ein Gegengewicht dessen [sei], was in der Welt so schnell wechselt und sich verändert.

Doch die Frage ist: Wie erinnern? Wie gedenken? Und hier antwortet unsere Gesellschaft Kulturerbe Thüringen: durch lebendige Aneignung der Historie!

Geschichte kann Demut lehren, Aufmunterung spenden, Ansporn sein. Sie zeigt, dass alle unsere kulturellen Fähigkeiten auf Vorleistungen beruhen und dass gerade das, was uns wertvoll ist, nämlich persönliche und gesellschaftliche Freiheit, Errungenschaften sind, die viele Generationen mit einem hohen Preis bezahlt haben. Urbar gemachte Landschaften, geistige Bildung, künstlerische Erzeugnisse, medizinischer Fortschritt – für all das lebten und starben Menschen.

Wir wollen Schiller sprechen lassen, der diesen Gedanken gekonnt in seiner Antrittsvorlesung, WAS HEIßT UND ZU WELCHEM ENDE STUDIERT MAN UNIVERSALGESCHICHTE, 1789 in Jena formulierte:

Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen haben sich – ohne es zu wissen oder zu erzielen – alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht haben. Aus der Geschichte erst werden Sie lernen, einen Wert auf die Güter zu legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsre Dankbarkeit rauben: kostbare, teure Güter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen haben errungen werden müssen! Und welcher unter Ihnen, bei dem sich ein heller Geist mit einem empfindenden Herzen gattet, könnte dieser hohen Verpflichtung eingedenk sein, ohne daß sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtragen kann? Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen. Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet – etwas dazusteuern können Sie alle! Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgetan, zu der wahren Unsterblichkeit meine ich, wo die Tat lebt und weitereilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte.

Prägnanter könnte man die Pflicht oder den Sinn eines Jeden als dem zwischen Vergangenheit und Zukunft Stehenden nicht formulieren, als der diesem Vortrag titelgebende Satz:

Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen.

Dass ein Verein oder ein Museum aus dieser Grundhaltung heraus und nicht nur aus Erfüllung politisch-kulturstrategischer Vorgaben oder zur Erwirtschaftung eines monetären Gewinns Thüringer Kulturerbe vermittelt, ist uns nicht bekannt. Umso mehr soll deshalb das oben Gesagte die Grundlage unserer Arbeit bilden!

So vieles hat das Kulturerbe Thüringens der Welt zu zeigen und zu sagen! Allein Goethes Idee der Weltliteratur, seine Verwerfung jeglichen Nationalismus’ und Nietzsches darauf abgestimmte Europa-Utopie als ideelles Fundament könnten dem vereinten Europa als Fundament dienen, doch der Politik kommt die Formulierung solch einer historischen Ableitung nicht in den Sinn, da sie Europa größtenteils nur als politisch-ökonomische und nicht als Kultur-Einheit versteht. Das nur als ein Beispiel für die übernationalen Botschaften des Thüringer Kulturerbes.

Natürlich, Kritik ist berechtigt, und mancher hat vielleicht während meiner Ausführungen Fragezeichen gesetzt. Verkörpert die Vorwelt denn tatsächlich Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit? Das könnte man fragen. Geschichte als geschönte Vergangenheit, als erträumtes Ideal, ja geradezu als ein paradiesischer Ort, vielleicht verherrlicht aus landespatriotischer Gesinnung?

Ganz klar, die Vergangenheit ist – wie die Gegenwart – ambivalent. Gutes besteht neben Bösem. Der bereits 1949 formulierte Satz, Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald, verdichtet diese krasse Diskrepanz in einem einzigen Satz. Kulturleistungen sind kein Garant für eine Verbesserung im menschlichen Zusammenleben. Die Geschichte hat das gelehrt. Dass Johann Gottfried Herder nur unweit des späteren Konzentrationslagers Buchenwald von seinem Ideal einer Gesellschaft der Humanität und der Toleranz sprach, weckt bis heute Skepsis an der Menschheit. Unserer Gegenwart, in der Freiheit und Sicherheit scheinbar selbstverständlich sind, muss durch Aufzeigen ihres einstigen Fehlens die Kostbarkeit dieser Güter gezeigt werden.

Die Gesellschaft Kulturerbe Thüringen weiß um das Negative und wird auch diese Kapitel der Geschichte aufgreifen und kritisch behandeln. Hauptanliegen ist jedoch, das Erhabene und das Erhebende der Geschichte herauszuarbeiten. Die Begriffe „das Erhabene“, „das Erhebende“, erscheinen womöglich antiquiert, nicht zeitgemäß, doch behält der Leitspruch, den Herzog Georg I. von Sachsen-Meiningen in das Tympanonfeld des Theatergebäudes in Meiningen anbringen ließ, immerwährende Gültigkeit – auch wenn er in unseren Tagen mit Füßen getreten wird. Man wende sich nur – unter dem genannten Schriftzug stehend – und schaue auf das neu errichtete Altenheim, einen billigen Bau, der für den Theaterherzog eine Beleidigung wäre, ebenso wie für alle Heutigen mit einigem ästhetischen Sinn. Solch ein Zweckbau an einem Ort, der hohe Ideale verkörpert, ist eine böse Umkehr des edlen Mottos der benachbarten Spielstätte. Dieses südthüringische Beispiel hat viele Geschwister in allen Kreisen des Freistaates, in dem das Kulturerbe schlicht verwaltet wird und Neues nur zu oft die Mickrigkeit unserer eigenen Zeit schmerzlich demonstriert.

Zum Abschluss meiner Ausführungen seien noch ein paar Gedanken zum Thüringen-Museum gegeben, die während des anschließenden Rundgangs durch das Haus vertieft werden können:

Sie mögen fragen, wie denn ein Museum ohne über Jahre aufgebaute Sammlung funktionieren soll. Ich antworte mit dem Gegenteil: Schauen Sie sich bestehende Museen an. Da gibt es Tausende Objekte, unzählige Räume, Führungen, die die Ausstellungen kommentieren, doch nicht den wahren Kern der Sache herausarbeiten. Und wenn einem beim Eintritt schon mit einem unfreundlichen Gruß begegnet wird, ist das vielleicht nur eine Kleinigkeit, aber für einem rundum angenehmen Museumsbesuch abträglich.

Vielerorts gleichen Museen immer noch toten Ansammlungen irgendwelcher Gegenstände aus irgendwelchen fernen Zeiten. An Relikten der Vergangenheit mangelt es bekanntlich keineswegs. Doch gerade die Fülle an überbrachten Objekten birgt eine Gefahr, die bereits Friedrich Nietzsche 1874 in seiner Schrift NUTZEN UND NACHTHEIL DER HISTORIE FÜR DAS LEBEN deutlich formulierte: nämlich jene, dass unter der Last des Vergangenen, die plastische Kraft des Menschen, eines Volkes, einer Cultur, zum Erliegen kommt. Dies wollen wir beachten und besser machen. Authentische Ausstellungstücke aus allen Epochen können als Leihgaben oder als Eigenerwerbungen organisiert werden. Diverse Ideen und Zusagen gibt es bereits.

Eine weitere Frage könnte sein, ob ein Thüringen-Museum nicht in die Landeshauptstadt Erfurt gehöre! Wir meinen „Nein“, denn die Thüringer Eigenheit ist gerade ihre Differenzierung, kein Zentralismus. Schmalkalden ist mit seiner erhaltenen Innenstadt eine Bilderbuchstadt und eine geeignete Umgebung für ein Thüringen-Museum. Hier kann das Haus wirken. Ob die Einrichtung letztlich in Schmalkalden installiert werden kann, hängt von einigen Faktoren ab. Dass wir unser Thüringen-Museum in Thüringen einrichten können, das ist unser festes Ziel und – ich wiederhole – am liebsten in diesem tollen und geeigneten Haus.

Was bleibt noch zu sagen?

Der „Kosmos Thüringen“, wie wir ihn im Museum vermitteln wollen, kann Anregungen für die Zukunftsgestaltung unserer Gesellschaft liefern, wie für die Ausgestaltung jedes einzelnen Lebens. In den Schulen ist das geistige Kulturerbe, welches früher noch geehrt wurde, nur noch ein Thema unter vielen. Schüler werden mit Wissen aus allen Bereichen angefüllt. Dass es einen Unterschied zwischen Wissen und Bildung gibt, scheint den Verantwortlichen unbekannt. Ausbildung statt humanistischer Bildung ist an der Tagesordnung. In Thüringen schaue man nur darauf, wie die geisteswissenschaftlichen Fächer in den letzten Jahren per Gesetz an Bedeutung verloren haben. Statt Menschen die edlen Wahrheiten zu vermitteln und Lebenshaltungen aufzuzeigen, werden ihre Köpfe überfüllt und viele überfordert.
Weshalb?

Antwort fand bereits Friedrich Nietzsche 1874: […] die Menschen sollen zu den Zwecken der Zeit abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Hand anzulegen und dem Arbeitsmarkte keine Kraft zu entziehen.

Beinahe über 140 Jahre später scheint dieses pragmatische Ziel, das die Menschen unter ihren Möglichkeiten lässt, immer noch nicht überwunden. Und gerade bei jungen Menschen wäre die Vermittlung von Humanität so dringlich, denn wir alle sehen eine – ich sagte es bereits – durchaus wohlhabende, aber auch verirrte Zeit.

Wer als Deutscher, als Thüringer, zufrieden mit der aktuellen Situation ist, hat angesichts der in langen Abschnitten kriegerischen und unfreien Historie nicht Unrecht, doch die Mängel, das Bedrohende und Gefährliche der eigenen Zeit müssen auch erkannt werden, damit die Nachwelt beim Rückblick auf unsere Zeit Grund zum Staunen hat.
Wir befinden uns, wie bereits Franz Kafka 1920 schrieb, in einem stehenden Sturmlauf, in einem Rennen auf der Stelle, beim Herumdoktern an Symptomen, nicht an Ursachen, beim Schneiden der Blätter, statt beim Düngen der Wurzeln. Lässt unsere Anspruchs- und Forderungsgesellschaft Menschen nicht hinter ihren Möglichkeiten zurück? Bringt das Mehr und Schneller an Produzieren und Kommunizieren für den Einzelnen de facto nicht weniger an wertvoller Lebenszeit?

Warum diese Worte und Fragen? Weil uns das Kulturerbe Thüringens exakt an dieser Stelle helfen kann, weil es uns Alternativen des Lebens aufzeigt: regionale Bindung und Verbundenheit, Gelassenheit gegenüber der Hektik der Moderne, ein Ineinandergreifen von Gestern und Heute, das den Wert der eigenen Zeit lehrt, die Möglichkeit eines ruhigen Arbeitens ohne das zermürbende Schielen auf Mehr und viel Mehr.

Mitunter lassen sich heute schon Änderungen im Bewusstsein erkennen: Menschen definieren sich nicht mehr nur über die Hast ihrer Arbeit, über das möglichst Viele ihres monetären Ertrages. Unser „Thüringen-Museum“ möchte versuchen, auch diese Aspekte des Kulturerbes zu erschließen.

Wir wollen unsere Arbeit aufnehmen und bekennen, dass das projektierte „Thüringen-Museum“ ein ambitioniertes, ja ein großes Vorhaben ist. Unser Online-Journal wird noch in diesem Jahr starten. Um das Museum zu
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realisieren, werden wir uns in den kommenden zwei Jahren mit allen Kräften bemühen, das notwendige Kapital für Immobilienerwerb und erste Sanierungsmaßnahmen zu organisieren. Es ist klar, dass diese Mittel nicht vor Ort aufgebracht werden können. Gespräche mit privaten Unterstützern und Kulturmäzenen gibt es. Aus regionaler Perspektive betrachtet, mag solch ein Museums-Projekt als ein großes Vorhaben erscheinen, doch sind die minimalen Kosten, mit denen das Museum in diesem Haus realisiert werden kann, im Vergleich zu anderen Kultureinrichtungen relativ gering.

Wichtig ist es, viele Freunde und Förderer für das Museum zu finden. Es gibt viele Untugenden unter den Menschen, es gibt Personen, die Aktion schreckt und die Ideen behindern wollen. Doch es gibt positive, zugreifende, helfende Menschen, überall auf der Welt. Die Gesellschaft Kulturerbe Thüringen möchte nicht nur Thüringer als Interessenten und Mitglieder gewinnen, sondern auch international Freunde finden, denn das Kulturerbe interessiert potentiell mehr Menschen von außerhalb als die Thüringer selbst. Die große Geistestradition, die in Thüringen ihren realen Platz hatte, hat Interessenten und Liebhaber auf der ganzen Welt. Allein die Musik Bachs ist in den Vereinigten Staaten ebenso präsent, wie sie in Asien gefeiert wird. Und die deutschen Klassiker finden unter chinesischen Studenten einen solch begeisterten Zuspruch wie wenig andere ausländische Autoren.

Für die Realisierung eines Museums vor Ort, hier in Schmalkalden, ist es natürlich ebenso wichtig, wie viele Unterstützer man vor Ort binden kann und wie förderlich sich die regionale Politik verhält. Denn es ist sicher: Die Unterstützung der Bevölkerung sowie der Politik muss dem Projekt in der Region und im Freistaat beschieden sein. Private Mäzene werden nicht dort investieren, wo sie wissen, dass provinzielles Denken im Wege steht.

Wir, die junge Gesellschaft Kulturerbe Thüringen, wünschen uns deshalb eine wohlwollende Unterstützung aller öffentlichen Stellen und Personen in Stadt, Kreis und Land. Mittel des städtebaulichen Denkmalschutzes sind beispielsweise unerlässlich. Da die derzeitigen Bedingungen 2013 enden und man nicht von einer Aufstockung ausgehen kann, ist hierbei ein Termin gegeben, wann Baumaßnahmen in Angriff genommen sein sollten.

Der Ort, an dem das Thüringen-Museum angesiedelt werden wird, kann ohne Frage touristisch davon profitieren, gerade auch, weil das Museum auch als Überblicksmuseum konzipiert ist, das einen Einblick in den „Kosmos Thüringen“ bietet und auf Spezialmuseen zu den unterschiedlichen Themen hinweist.

Das Museum soll landesweit beworben werden und Tagestouristen anlocken. In Schmalkalden wäre es als Ergänzung zu dem bestehenden musealen Angebot eine wünschenswerte Einrichtung, was für alle im Kultursektor Tätigen Synergieeffekte bringen würde. Wegen der unterschiedlichen Themen und Räumlichkeiten kann das Museum am Fuße der etablierten Wilhelmsburg keine Konkurrenz sein.

Am Anfang einer Tat steht die Idee, und die Idee für die Gesellschaft und das Museum ist über zwei Jahre in Ruhe entwickelt worden. Heute fand sie ihren Weg in die Öffentlichkeit, und wir hoffen auf eine wohlwollende Aufnahme.
Wenn wir Sie in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft zur Eröffnung des ersten Thüringen-Museums erneut einladen dürfen, dann hoffen wir, Sie wieder in diesem Haus begrüßen zu können.

Ein Thüringen-Museum der geschilderten Art tut not. Es ist eine Fehlstelle in der Thüringer Museumslandschaft, und wir möchten diese füllen. Das weite Thüringen, um nochmals einen Ausdruck Goethes zu benutzen, fordert ein Museum mit dem geschilderten Ziel und der inhaltlichen Untermauerung.

Für Ihre Aufmerksamkeit danke ich Ihnen. Bitte halten Sie sich nicht mit kritischen Fragen zurück, denn keine Idee ist so gut, dass sie nicht durch das sachliche Urteil Vieler verbessert werden könnte.